Warum Politiker JETZT auf TikTok müssen (auch wenn sie es noch nicht wahrhaben wollen)

Hilfe – was ist denn das? Wer TikTok zum ersten Mal öffnet, ist schnell irritiert: Die App brüllt sofort los (Sound ist im Prinzip erstmal „ON“), irgendwelche Teenies tanzen zu nur ihnen bekannten Musikfetzen, unverständige Trends, unerklärliche Inside-Jokes, Reaktionen auf andere Videos, die im Hintergrund flimmern, alles schnell, brachial, mit Sounds und Effekten unterlegt. Gegen die laute, blinkende, quietschige TikTok-Welt wirken selbst Instagram-Storys, die noch vor kurzem als maximal nervöse Social-Media-Verrücktheit galten wie innere Einkehr hinter Klostermauern.

TikTok löst ein uraltes Problem der Politik – und keiner kriegt es so recht mit

„Politiker auf TikTok – das klappt doch nicht!“ oder „TikTok ist Musik, Trends und Jokes – Politik ist da fehl am Platz!“. Wer an diese Vorurteile glaubt, der will sich vielleicht schlicht einfach nicht auf Augenhöhe der ganz jungen Internetgeneration (vereinfacht „Generation Z“ genannt) begeben – vielleicht aus Unwissen oder Bequemlichkeit – und verpasst damit eine Riesenchance. Seit Jahrzehnten sucht die Politik vom einfachen Ortsverband bis zur Regierungszentrale nach einem Zugang zur ganz jungen Generation. Nun liegt dieser vor einem auf einem Silbertablett, und die meisten schauen weg und starren weiter ausschließlich auf ihre Facebookzahlen.

Auf TikTok ist mehr inhaltliche Reflexion als auf Twitter

Man sollte die flotte Craziness der Generation Z nicht als politische Einfältigkeit interpretieren. Die Erfahrungen mit politischen TikTok-Inhalten zeigen: Die Diskussionskultur ist auf TikTok vielfach tiefgehender, offener und kultivierter als auf anderen Kanälen. Wenn auf „Erwachsenenplattformen“ wie Twitter über Politik diskutiert wird, gleicht es verbalem Stellungskrieg: Argumente-Austauschen interessiert in Wahrheit niemanden. Twitter ist erstens „Fishing for Compliments“ gegenüber der eigenen Blase und zweitens „Auf sie mit Gebrüll!“ gegen die anderen, die nicht im gleichen Team sind. Auf TikTok ist mehr inhaltliche Reflexion als auf Twitter.

TikTok ist eine Gelegenheit und eine Lösung für ein Uralt-Problem. Der direkte Draht zur jungen Generation ist endlich gefunden – mit der TikTok-App können sie diesen direkt herunterladen. Wer jetzt fragt „Warum sollen wir die TikTok-Nutzer bespaßen – die sind ja oft nicht einmal alt genug zum Wählen?“, der agiert kurzsichtig – es geht ja um nachhaltige Markenbildung. Der politische Pfad, den jemand einschlägt, der wird schon längst vor der Volljährigkeit bestimmt. Eine politische Marke lässt sich damit schon weit vor der altersmäßigen Wahlberechtigung stärken oder eben verhunzen. Im Klartext: Wer als Marke in fünf Jahren noch relevant sein will, der muss jetzt auf TikTok!

Dabei geht es in erster Linie auch gar nicht, Leute mit Argumenten zu überzeugen – das kommt idealerweise mit dazu. Vor allem geht auch darum, den jungen Menschen Wertschätzung entgegenzubringen. Das ist in diesen Tagen das primäre Signal eines TikTok-Accounts und der wichtigste Grund, jetzt damit zu starten.

Die Politik hat bislang eher einen Bogen um TikTok gemacht (mit wenigen rühmlichen Ausnahmen). TikTok-User und Kanäle haben die Politik allerdings längst für sich entdeckt:

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Wie geht das also: Dos und Donts für den Start als Politiker auf TikTok

Wie geht das also? Die Herausforderung ist: Man muss den richtigen Tonfall treffen. Wer jetzt künstlich auf „jung“ macht und ein paar TikToks in aufgelesener Jugendsprache zusammenbastelt, wird in Nanosekunden enttarnt. Dann läuft es vermutlich wie 1997 als die SPD versuchte, sich mit einem Techno-tanzenden Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine, an „die Jugend“ anzubiedern. „Cringe“ war damals noch kein Jugendwort, aber fremdgeschämt wurde bei dieser Episode reichlich.

TikTok klappt, wenn man ein paar Regeln einhält. Wichtig ist: Erfolgreiche TikTok-Creators müssen ihren Weg erst finden. Redaktionspläne und Contentkonzepte werden anfangs oft schnell über den Haufen geworfen – häufig ist man überrascht, was der Community gefällt und was nicht. So kann der schnelle, aus der Hüfte geschossene Clip tatsächlich tausendmal soviel Reichweite bekommen wie das mühsam geschnittene Highlight-Video. Auf dieses Suchen und Finden der eigenen „Nische“, nämlich den Content und das Storytelling, mit denen man gute Reichweitern erzielt, muss man sich einlassen. Und es wird erstmal ein bisschen dauern. Die gute Nachricht: TikTok ist im Normalfall nicht besonders kostspielig. Die potenziell erreichbaren organischen Reichweiten sind dagegen schon zum Start eines Kanals derzeit sehr ordentlich und praktisch unabhängig von der Anzahl der eigenen Followerschaft.

Das Besondere: TikTok schafft auch Raum für das Unperfekte

Etwas kommt der Politik zugute: Ein wesentlicher Unterschied z.B. zum auf Ästhetik und Schönheit getrimmten Instagram ist, dass TikTok Raum für das Unperfekte schafft – optisch und inhaltlich. Hier äußern und zeigen die User ihre Ängste, Trauer und Wut über gewisse Themen, was auch als Chance von der Politik genutzt werden kann.

Auch Politik ist nicht immer perfekt, hat ihre Fehler und ist ausbaufähig in vielerlei Hinsicht. Dies anzuerkennen und mal nicht einen geradlinigen Weg der politischen Vermittlung zu fahren, erhöht die Glaubwürdigkeit ungemein.

TikTok-Pioniere sollten ansonsten folgendes beachten: Authentische Menschen zeigen, Trends folgen, den Dialog auf Augenhöhe führen und auch mal was Politisches unterhaltsam erklären und einordnen helfen. Aber: Auch wenn man das eigene Programm selbstverständlich als superwichtig empfindet – die eigenen politischen Inhalte darf man nicht zu bierernst nehmen – Selbstironie ist Trumpf und stärkt das Ansehen.

„Facebook ist nur was für Studenten!“ (Zitat 2009) „Instagram, da geben junge Frauen Schminktipps“ (Zitat 2012) – da war doch was? Diese Kanäle sind mittlerweile wahlentscheidend. Und die nächste große Plattform kommt bestimmt und wird wieder folgenden Zyklus durchlaufen: Erst belächelt man sie. Dann kritisiert man die, die schon drauf sind. Und dann ist man zu spät dran. „TikTok, da tanzen doch nur Teenies zu HipHop?“ (Zitat 2021) Nein – jetzt ist die Zeit für die Politik, zu starten!